Wissen als Widerstand

Die Künstlerin und Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Verena Melgarejo Weinandt beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit Wissen als Widerstandsform. Wer hat Zugang dazu und wessen Wissen wird unsichtbar gemacht? Dieser Fragestellung widmet sie sich unter anderem in ihrer letzten Fotoarbeit „Reading Resistance“ für die sie latinx Frauen in Wien fotografiert hat, die ihr Wissen durch Vorlesen an Kinder weitergeben. Valerie-Siba Rousparast hat sie für das Missy Magazine zum Gespräch getroffen, das ihr auch hier lesen könnt:

Du bist am 15. und 16. Juni Teil des Klirrrr – Festival für queere Konfliktkulturen zum Thema „Caring for Conflict“ in Berlin mit einem Workshop. Was bedeutet Konflikt für dich?
Ich denke dabei erst mal an Konfliktzonen, wie bei Gloria E. Anzaldúa. Daran, dass es Orte gibt – nicht nur physische, in denen unterschiedliche Vorstellungen, Sprachen, Kulturen aufeinandertreffen und verhandelt werden. Sie thematisiert in ihrer Arbeit die Grenzregion Mexiko-USA, aber erweitert den Begriff von Grenze auf viele andere Aspekte, an denen Empowerment stattfinden kann. In ihren Zeichnungen beschreibt sie den Ort des Konflikts als einen Körper, der am Äquator in beide Richtungen gezogen wird. Ich kannte diese Form des Begreifens von Konflikt noch nicht.

Du arbeitest viel zu Gloria E. Anzaldúa, wie kam es dazu?
Auf einer persönlichen Ebene hat es mich sehr beeinflusst, eine Theoretikerin zu lesen, mit deren Schreiben und Themen ich mich identifizieren kann. Zu ihren Zeichnungen bin ich über die Benson Latin American Foundation gekommen, die verwalten das ganze Archiv ihrer Arbeiten. Sie suchten nach Orten, an denen ihre Zeichnungen ausgestellt werden können, also habe ich sie in Wien gezeigt und dann weitere Orte gesucht. Anzaldúas Konzepte basieren auf Bildern, über die sie anschließend zu schreiben begonnen hat. Für ihre Vorträge, die sie ihre Gigs genannt hat, hat sie diese auf Overheadfolien gezeichnet. Ich finde den Zusammenhang zwischen Bild und Vorstellung (image und imagine)  interessant.

Du hast schon vorher künstlerisch gearbeitet und kuratiert. Wie fing das an?
Ich habe eine Ausbildung zur Fotografin in Wien gemacht und für einen Fotografen gearbeitet. Anschließend habe ich an der Akademie der bildenden Künste Kunst studiert. Da bin ich total in die Theorie reingerutscht, in die Kunst- und Kulturwissenschaft. Als ich zum Austausch in Buenos Aires war, habe ich dann wieder Kunst gemacht, vor allem in kollektiven Zusammenhängen. Zurück in Wien habe ich dann in beiden Fächern meinen Abschluss gemacht – in bildender Kunst und Kunst- und Kulturwissenschaft. Gerade mache ich meinen Doktor in Philosophie.

Du machst auch viel Vernetzungsarbeit, worum geht es dabei?
Ich bin stark vernetzt in die Latinx Community, habe ein Kollektiv gegründet – Trenza. Das Kollektiv ist sehr heterogen, was ich sehr schätze. Mir ist es wichtig, dass sich dort verschiedene Identitäten, Sexualitäten, Klassenzugehörigkeiten und Alter vereinen. Aber alle bezeichnen sich als deskoloniale Feminist*innen und uns ist der Austausch auf einer praktischen, spirituellen und körperlichen Ebene wichtig. Ich bin außerdem Teil vom Verein Großes Schiff. Dort bieten wir von latinx Frauen* für Frauen* und Kinder Empowermentworkshops, Kreativworkshops an.

Was bedeutet Wissensweitergabe für dich?
Wissensweitergabe beschäftigt mich in meinen unterschiedlichen Praxen, bei meinen künstlerischen Arbeiten, aber auch innerhalb meiner akademischen Forschung. Ich bin immer noch am Herausfinden, wie ich mit dem Wahnsinnsapparat der Uni umgehen kann. Je weiter ich da reinsacke, desto mehr werden die ganzen Widersprüche sichtbar. Aber ich unterrichte sehr gerne, ob an der Universität, in Kindergärten oder Schulen. Ich hab mich immer dagegen gewehrt, dass es mich beeinflusst hat, dass meine Mutter Grundschullehrerin ist, aber sie hat ihre Vermittlungsposition sehr ernst genommen und ich hab wohl was davon abbekommen (lacht). Ich wünsche mir, dass wir andere Formen von Lernen erlernen!

Was den künstlerischen und akademischen Kontext angeht, sind das fast immer extrem elitäre Veranstaltungen, wo viele Codes gebraucht werden und verschiedene Formen von Kapital, um Zugang zu erhalten. Ich finde es wichtig, daran zu arbeiten, dass sich das verändert. Denn Leute, die außerhalb dieser Räume sind, denken, sie wissen nichts, oder ihnen wird vermittelt, dass ihr Wissen nicht von Bedeutung ist, und das stimmt nicht.

Was bedeutet Unsichtbarmachung im Kontext queerer Theorie?
Gloria E. Anzaldúa ist ein krasses Beispiel dafür, dass Wissen nicht gleichwertig bewertet wird. Sie hat zur gleichen Zeit wie Judith Butler über Queer Theory geschrieben. Anders als Butler hat sie jedoch keine lange akademische Karriere fortsetzen können. Sie ist an Diabetes gestorben, weil sie keine Krankenversicherung bezahlen konnte, und die Universitäten haben ihr nie eine etablierte Stelle finanziert. Bis heute wird sie im deutschsprachigen queeren akademischen Kontext kaum rezipiert, vor allem im Vergleich zu Butler, und „This Bridge Called My Back“ ist der wichtigste erste Sammelband für queere Women of Color Writings in der Geschichte. Es ist also alles schon da, wir müssen die Geschichte nicht neu schreiben.

Wie schaffst du es, deine Kritik an der akademischen Elite mit deiner Doktorarbeit zu vereinen?
Ich hinterfrage dort Fragen nach Methoden. Was sind Methoden von Wissensproduktion, die nicht Teil von einer eurozentrischen Form von Wissen sind? Silvia Rivera Cusicanqui, von der noch nichts übersetzt wurde, hat ein Buch geschrieben, das heißt „La Sociología de la Imagen“ (Die Soziologie des Bildes). Darin beschreibt sie eine von ihr entwickelte Methode der De(s)kolonisierung des Blickes und der Geschichte, vor allem in Hinblick auf die Geschichte Boliviens und jene der indigenen Frauen.

Sie selbst würde den Terminus de- oder deskolonial vielleicht nicht verwenden, sie äußert viel Kritik daran. Auch die Bezeichnung ihrer Praxis ändert sie immer wieder, mal ist sie Historikerin, mal Soziologin – sie spielt damit. Sie ist auf jeden Fall Vorreiterin für die Auseinandersetzung mit indigenen Frauen in der Geschichtsschreibung. Sie arbeitete bereits in den 80ern mit der Methode der Oral History und beschäftigte sich damit, wie sich das Wissen indigener Frauen als Wissensform, die unsichtbar gemacht wird, in den Vordergrund stellen lässt.

Auch in deinen Fotoarbeiten geht es um Wissen als Widerstand.
Ja, es geht dort um Kinderbücher und heißt „Reading resistance/Widerstand lesen/Leyendo Resistencia“.  Es geht darum, die Frauen in meinem Umfeld sichtbar zu machen, die Wissen weitergeben, und diese in eine Superhero-Position zu heben.

Wie kann der Akt des Weitergebens von Wissen durch Kinderbücher ein Akt des Widerstands sein?
Das Wissen über soziale Bewegungen weiterzugeben ist ein Widerstand. Das Wissen indigener Communitys über deren Verständnis von Kultur und Natur weiterzugeben ist ein Akt des Widerstands. Auch ihr Verständnis und die Wahrnehmung von Ressourcen in einem nicht akademischen Sinne ist die Weiterführung von Kämpfen, die immer noch aktuell sind.

Es gibt zu wenig Kinderbücher, die Kinder reflektieren, die Schwarz sind, homosexuelle Eltern haben oder andere Familienkonzepte leben. Diese Lücke muss geschlossen werden.

Vielen Dank für das Gespräch.

27.05.2018—18:47 h—KLIRRRRR Festival