Queere Konfliktkulturen stoßen sich unweigerlich auch an der Zwei-Geschlechter-Ordnung. Doch was dies bedeutet, gilt es jetzt neu zu überlegen. Denn diese hat ihre Form verändert, seit ins deutsche Personenstandsgesetz im Dezember 2018 eine dritte Geschlechtsoption eingeführt wurde (PStG §45b). Langjährige Kämpfe der Inter*-Bewegungen, queerer Aktivismus und ein bahnbrechender Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 2019/16) haben die Voraussetzungen der genannten Gesetzesreform geschaffen. Mittlerweile steht im Geburtenregister neben den traditionellen Optionen „weiblich“ und „männlich“ auch der Verzicht auf einen Geschlechtseintrag sowie die Möglichkeit „divers” zur Verfügung.
Einführung von ‚divers’? Wäre die generelle Abschaffung einer staatlichen Registrierung des Geschlechts nicht konsequenter? Oder zumindest das Offenhalten des Geschlechtseintrags für alle Kinder bis zu einem Alter, in dem sie selber entscheiden können? Und wenn die Macht des Staates beibehalten wird, warum dann mit solch vagem Begriff? In der jetzigen Form ist das Gesetz weit entfernt vom Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung. Denn unverzichtbar ist für die Änderung des Geschlechtseintrags eine ärztliche Bescheinigung, die bestätigen soll, dass eine „Variante der Geschlechtsentwicklung“ vorliege. Zudem steht ihm weiterhin das sog. Transsexuellengesetz zur Seite, das vom Bundesverfassungsgericht in mehrfacher Hinsicht als verfassungswidrig und menschenrechtsverletzend eingestuft worden ist. Die Definitionsmacht der Medizin bleibt also erhalten. Die ärztliche Bescheinigung ist für die meisten kein Zeichen der psycho-somatischen Unterstützung durch ein*e Ärzt*in des Vertrauens, sondern eine Fortsetzung der Pathologisierung.
Wenngleich im „x“, also der Möglichkeit, kein Geschlecht einzutragen, das langfristig durchschlagendere Moment des Personenstandsrechts liegt, ist auch die Option „divers“ nicht zu verachten. Sie bietet für einige die lang ersehnte und mühsam erkämpfte Möglichkeit eines weiteren „positiven Geschlechtseintrags“, der die eigene Existenz nicht zum „Anderen“ der Norm erklärt. Und sie lässt sich durchaus als queer verstehen. Denn wenn „divers“ als dritte Option statt als drittes Geschlecht aufgefasst wird, liegt darin die Chance, aus der Identitätslogik auszusteigen. Zwar betont die Gesetzgebung, der Paragraph sei für inter* Personen geschaffen. Doch unter der Überschrift „Variante der Geschlechtsentwicklung“ eröffnet sich ein Spektrum an Auslegungsmöglichkeiten. Vielfach wird von aktivistischer Seite deshalb von Variationen statt Varianten gesprochen. Denn die Variante ist immer noch die „Variante von“, während Variationen potentiell gleichberechtigt nebeneinander stehen. Betont wird dann Differenz als Einzigartigkeit oder Besonderheit, nicht als Abweichung von der Norm.
Somit legt „divers“ weder nahe, dass sich alle Formen von Inter* als eine einheitliche Geschlechtlichkeit auffassen ließen, noch dass sie klar von Trans* oder Nicht-Binärem zu unterscheiden seien. Wenn sie sich unter einen Begriff zusammenfinden, dann deshalb weil dieser in sich vielfältig und für fortdauernde Veränderung offen ist. Mich selber mit ‚divers’ zu verbinden, kann heißen, dass ich viele und vielfältig bin. In meinem verkörperten Selbstverständnis wirkt die Geschichte all meiner sozialen Erfahrungen und Beziehungen. Ein Bekenntnis zur Veränderung und lebenslangen Veränderbarkeit bezieht sich auch aufs Geschlecht. Ich persönlich würde außerdem sagen, dass mich mein Körper als Wesen erlebt, das die Optionen des Weiblichen beständig durchkreuzt, ohne sich deshalb männlichen Verkörperungen anzunähern. Das Pronomen xier statt sie oder er kann dies zum Ausdruck bringen. Zweifellos tragen auch Hormone und Gehirn, unter dem Einfluss sozialer Faktoren, zum Geschlechtsempfinden bei. Zum Glück befinden sich Hirn und Hormone und sogar die Gene aber seit der Geburt in beständiger Veränderung – nicht zuletzt, weil sie sich unweigerlich im Austausch mit ihrer Umwelt befinden.
Da die aktuellen Formulierungen des PStG vage sind, unterliegt ihre Auslegung, wie in einem Ratgeber des LSVD nachzulesen, dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2017. Dieser eröffnet Alternativen zur Norm der Zweigeschlechtlichkeit für all diejenigen, „die sich selbst dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen“ (1 BvR 2019/16). Wenn „divers“ als ein „positiver Geschlechtseintrag“ im Sinne des Bundesverfassungsgerichts aufgefasst wird, ist dies ein entscheidender Schritt in Richtung einer Zukunft, in der eine Änderung des Geschlechtseintrags durch eine einfache Erklärung vor dem Standesamt, ohne verpflichtende Zwangsberatung, und ohne die Notwendigkeit der Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung möglich ist. Noch entscheidender ist aktuell, dass endlich das lange überfällige Verbot der medizinischen Zwangsbehandlungen bzw. uneingewilligten geschlechtsverändernden Eingriffe von inter* Kindern umgesetzt wird. Ein Vorschlag für einen entsprechenden Gesetzentwurf, der umfassend die geschlechtliche Selbstbestimmung sowie körperliche und psychische Integrität schützen würde, liegt von Seiten des Deutschen Instituts für Menschenrechte längst vor. Dessen Umsetzung zu erstreiten ist eine Form des Caring for Conflict.
Bis es soweit ist, lassen sich die unerwarteten Spielräume und gesellschaftlichen Auswirkungen des neuen Gesetzes durchaus wertschätzen. Schon jetzt erfreuen die vielen Stellenanzeigen, in denen Personen (w/m/d) gesucht werden. Formulare, in denen mehr als die Optionen „Herr“ oder „Frau“ gewählt werden können (auf Englisch: Mx), sind zwar aktuell noch die Ausnahme, werden aber ebenso wie * und Unter_strich ihren Weg in die Alltagskommunikation und den Duden finden. Die Geburtsurkunden und Reisepässe ohne Geschlechtseintrag tragen dazu bei, Geschlecht von einem Muss in ein Kann zu verwandeln.
Vor allem aber sind all diejenigen, denen es bislang sicher schien, dass Inter* die anderen sind, eingeladen sich zu fragen, ob bei ihnen nicht eine bislang unerkannte oder schlicht nicht anerkannte Variation der Geschlechtsentwicklung vorliege. Kann eine Beratschlagung mit einer Ärzt*in deines Vertrauens diesen Erkenntnisprozess womöglich unterstützen? Beim Vorliegen einer ärztlichen Bescheinigung befördern die Standesämter die geschlechtliche Selbstbestimmung, indem sie die Umtragung von männlich zu weiblich, von weiblich zu männlich, von weiblich oder männlich zu divers, oder das Löschen jeglichen Geschlechtseintrags vornehmen. Gefragt ist auch Engagement dafür, dass die versprochene Abschaffung des so genannten Transsexuellen-Gesetzes zu einem reformierten Personenstandsgesetz führt, das zur tatsächlichen Gleichstellung aller Geschlechter und geschlechtlichen Selbstverständnisse sorgt. Die Zwei-Geschlechter-Ordnung verflüchtigt sich nicht auf dem Papier, sondern in der Praxis.
Antke Engel
* Vielen Dank an Jan Jules Himme, Noah Rieser, Magda Albrecht, Ins A Kromminga, Renate Lorenz und Alice Chwosta für Austausch und kritisches Feedback zu früheren Versionen dieses Artikels.
07.08.2019—10:09 h—Konflikt als Methode