Yvonne Delfendahl
Beim KLIRRRRR festival hat mich der Workshop „Gloria Anzaldúas Zeichnungen lesen“ beeindruckt. Er hat mir das Gefühl gegeben hat, dass wir alle etwas anderes wissen und schon durch den bloßen Austausch miteinander viel lernen können. Es war ein sehr gleichberechtigter Austausch, nicht geteilt in Wissende und Lernende, sondern wir waren alle beides zugleich.
Kurz danach habe ich von einem Freund einen Text bekommen „tradição viva“, die portugiesische Übersetzung eines Textes von A. Hampaté Bâ, geschrieben 1971-78. A. Hampaté Bâ war ein malischer Ethnologe (1900-1991). In „tradição viva“ schreibt er über die „mündliche Tradition“ in den Ländern der südlichen Sahara, also die mündliche Überlieferung und Erinnerung von Wissen.
Für mich war das eine spannende Ergänzung zum Workshop, deswegen möchte ich ein paar Gedanken dazu mit euch teilen. Ich bin noch dabei nachzudenken. Das hier ist ein Anfang.
In der Tradition der Völker der südlichen Sahara (A. Hampaté Bâ spricht unter anderem von den Mande) sei ein Wort gleichzusetzen mit Magie. Durch das Aussprechen würde etwas erschaffen.[1] Deswegen müsse man den Umgang mit Wörtern sorgfältig lernen.[2] Man könne ein Meister der Sprache werden. Eine Lüge hingegen entferne den Menschen von sich selbst und führe dazu, dass er sein Ansehen vor den anderen verliere, da er sich selber nicht respektiere.[3] Jeder Mensch könne jedoch auch Fehler machen, bei einer Erzählung seien deshalb meist Zeugen dabei.[4] Bei der Überlieferung einer Geschichte würde gesagt, wer sie einem erzählt hat und wo derjenige sie gehört hat…[5] So dass man nicht nur die Geschichte sondern auch ihren Weg kenne. Jeder könne z.B. seine eigene Familiengeschichte mindestens über die letzten 10-15 Generationen nachvollziehen.[6] Wenn jemand seine eigenen Gedanken und Erkenntnisse erzähle, sage er das am Anfang und bitte darum diese zu prüfen und auf Fehler hinzuweisen.[7] Man lerne, in dem man sich „Meister“ suche, mit denen man durchs Leben gehe.[8] Es gäbe Meister für alle Bereiche. [9]
Aber von wem lernen wir? Von Lehrer*innen. Wissen unsere Großeltern nichts – warum frage ich sie nicht? Wo ist die Verbindung von meinem*meiner Mathe-Prof zu dem Wissen, das er*sie mir vermittelt? Ist das Wissen völlig rational oder waren und sind damit nicht auch Gefühle verbunden? Woher kommt es? Muss man nicht wissen, woher etwas kommt um es hinterfragen und kritisieren zu können? Wo ist unsere Verbindung zu unserer Geschichte?
Wer hat von Gauß gelernt? Gauß hat 1850 noch unterrichtet, wie viele Generationen ist das her? Warum haben wir kein Interesse, unser Wissen persönlich weiterzugeben? Warum gibt es so viele, für die der Lehrauftrag eine Last ist und die nur zum Forschen an die Uni kommen?
„Wissen heißt wissen wo es steht“. Ein Satz, den ich in der Schule und auch in meinem naturwissenschaftlichen Studium immer wieder gehört habe. Für mich geht dabei verloren, dass das Wissen durch mich Bedeutung bekommt und ich durch das Wissen Macht bekomme, die Fähigkeit zu entscheiden. Ich habe häufig das Gefühl zu einer bloßen Durchfahrtsstraße von „Wissen“ zu werden, dieses nur noch wiederzugeben, ohne zu wissen, woher es kommt oder was es bewirkt, warum es wichtig ist und es nach dem „Gebrauch“ auch wieder zu vergessen – also eigentlich gar nichts zu wissen, obwohl die Noten auf den Zeugnissen etwas anderes sagen.
Der Workshop hat mir das Gefühl gegeben, dass es viele unterschiedliche Arten von Wissen gibt und nur wenig, das als solches akzeptiert ist.
A. Hampaté Bâ schreibt, in den Völkern der mündlichen Tradition würde nur der als Wissender anerkannt, der sein Wissen lebt. Wenn einer eine Sache weiß und diese in seinem Leben anwendet sei er ein Wissender. Jemand der tausend Dinge weiß ohne dass man diese jedoch in seinem Leben wiederfinden kann, sei keiner.[10]
Was wissen wir?
In der mündlichen Tradition brauche außerdem jede Geschichte ihre Zeit, um erzählt zu werden. Jede Erzählung würde mit all ihren Details wiedergegeben oder auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, wenn der Zuhörer Zeit habe. Man fasse nicht zusammen, denn Leben lasse sich nicht zusammenfassen. [11]
Vieles in seinem Text habe ich nicht verstanden. Ich kenne die Tradition nicht. Und vieles, das ich gegoogelt habe ist schlecht, z.B. die anhaltende Beschneidung der Frauen in Mali.
Doch wann kann man eine so feste Tradition kritisieren? Erstmal müsse man sie verstehen.
Se queres saber quem sou,
Se queres que te ensino o que sei,
Deixa um pouco de ser o que tu és
E esquece o que sabes.[12]
Wenn du wissen möchtest, wer ich bin,
Wenn du möchtest, dass ich dich lehre, was ich weiß,
Lass ein bisschen zurück von dem, was du bist
Und vergiss, was du weißt.
Schreibt er am Ende des Textes.
Und auch, wenn ich ihre Kultur nicht beurteilen kann, so kann ich doch unsere Kultur beurteilen.
Und ich finde, dass Lehren und Lernen in den Alltag eingebunden werden sollten und auf viele Weisen geschehen kann. Es braucht Zeit dafür. Jede*r von uns weiß etwas und es ist unsere Pflicht, das weiterzugeben und uns darüber auszutauschen.
PS:
Was ist meine Verbindung zu diesem Text, zu dieser Geschichte?
In meinem Leben bin ich über eine Tradition gestolpert, die Capoeira Angola. Sie verbindet mich mit Brasilien und mit der afrobrasilianischen Geschichte. Sie verbindet mich mit einer Kultur und einer Sprache, die nicht meine ist und an diese Mischung von Kulturen, von Wissen, von Tradition und Moderne habe ich mich im Workshop erinnert gefühlt.
[1] S.172-174
[2] S.178 Zeile 33 ff
[3] S.177-178
[4] S.181-182
[5] S.182 Zeile 21
[6] S.206 Zeile 10 ff
[7] S.182 Zeile 31 ff
[8] S.184 Zeile 22 ff
[9] S.175 Zeile 15 ff
[10] S. 183
[11] S.210-211
[12] S.214 Zeile 29 ff